Straight outta Compton: Antonio Pierce will seine geliebten Raiders in die NFL-Elite führen. Credit: Imago Images / Newscom World / Christopher Trim

Die Las Vegas haben ihren Spielern und ihren Fans das gegeben, was sie allesamt wollen – der bisherige Interim Antonio Pierce ist nun neuer Head Coach in der „Sin City“. Er überzeugt mit markigen Sprüchen und allerlei Versprechen, nur kann das seinen Mangel an Erfahrung wettmachen?

Es scheint für die Fans der Las Vegas Raiders alles ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Die Szenen, wenn ihr damaliger Interimscoach Antonio Pierce aus heiserer Kehle den Raiders-Chant im Zigarren verqualmten Locker Room anstimmt, die Zitate, in denen Pierce davon spricht, die Kansas City Chiefs zu hassen und speziell designte Regeln festzulegen, um Patrick Mahomes zu Leibe zu rücken. Es ist gleichzeitig Hommage an die Vergangenheit wie auch Versprechen für die Zukunft, eines das im Dunstkreis des „Black Hole“ ein kleines bisschen mehr verfängt, als an vielen anderen Orten. Es entwickelt eine besondere Kraft für ein Team, bei dem seit jeher vieles ein wenig anders ist als bei den meisten NFL-Franchises. „Different“ eben.

Antonio Pierce geriert sich als „different“

„Different“ – diesen Ausdruck benutzt Antonio Pierce gefühlt zwanzig Mal, bevor er sich morgens überhaupt die Zähne geputzt hat. Er selbst sei anders, er sehe anders aus als andere Coaches, er rede anders. Seine Spieler, die Atmosphäre, ihre Beziehung seien anders, die Raiders als Institution sowieso. Es ist letztendlich ein wildes Gemisch aus Worten, das im Gewand klassischer Anti-Establishment-Rhetorik neue Kräfte freisetzen und die in der NFL vielerorts bemühte „Us against the world“-Mentalität beschwören soll. Alles ist im Topf mit drin – der Mangel an Respekt für die Spieler und für Pierce selbst, die Benachteiligung schwarzer Head Coaches oder ehemaliger Spieler im Allgemeinen, die Kriegsvergleiche, das „Foxhole“ und so weiter und sofort. Eines wird dabei allerdings nicht „different“ sein.

Der Standard, an dem Pierce nun gemessen werden wird, ist ungleich jener, der auch für alle anderen 31 NFL-Coaches angelegt wird. Dieser kennt nur zwei Dimensionen – Siege und Niederlagen. Ganz egal, wie anders man ist und auch ganz egal wie kometenhaft der eigene Aufstieg vorkommen mag. Antonio Pierce coachte vor ein paar Jahren noch relativ erfolglos High-School-Football, nach einem kurzen Intermezzo am College verdingte er sich als NFL-Linebackers-Coach. Gefühlt am nächsten Morgen war er der Interimscoach der Las Vegas Raiders, ein kleines bisschen wie aus dem Nichts. In gewisser Weise ist es eine „Rags to riches“-Geschichte, ein sportliches Aschenputtelmärchen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der in Compton aufgewachsene Pierce schon in Kindestagen die „Silver & Black“ heiß und innig liebte. Womit er nun wohl auch genau das war, was die Las Vegas Raiders gebraucht haben.

Raiders hoffen auf den Anti-Josh-Mc-Daniels

Denn der Grund, warum Pierce bis jetzt dermaßen gut in Las Vegas funktioniert hat, liegt nicht zuletzt in seinem Vorgänger. Der Ex-Belichick-Adjutant Josh McDaniels hatte mit seinem importierten „Patriot Way“ jegliche Form von Lebensfreude aus den seit Jahren schon im Mittelmaß dümpelnden Raiders gesaugt, mit seiner arroganten Spießigkeit und implizierten Cleverness soll er die Aktiven bis an den Rand des Wahnsinns und eben schließlich auch darüber hinaus getrieben haben. Pierce ist wenig überraschend der Anti-McDaniels. Kein sozial unbeholfenes taktisches Mastermind, kein entrückter Laptop-Trainer, dafür aber ein charismatisches Ex-Spieler, der weiß, wie es sich in den „Trenches“ anfühlt, wie es ist, Woche für Woche seine Knochen für das große gemeinsame Ziel auf die Goldwaage zu legen.

 

In gewisser Weise ist er damit auf der für die Spieler richtigen Seite eines teilweise künstlich kreierten Klassenkampfes, den McDaniels eigentlich schon vor seinem ersten Arbeitstag verloren hatte. Pierce dagegen ist „einer von uns“, wie es die Spieler nicht müde werden zu betonen, jemand, der sie versteht und mit ihnen reden kann. Der ihre Sprache spricht. Diese Sprache beinhaltet eben auch Ausschweifungen wie die jüngsten Aussagen von Pierce, er wolle für Patrick Mahomes und die Kansas City Chiefs umgebaute „Jordan Rules“ implementieren. Die Detroit Pistons der späten 1980er Jahre hatten mit ihrer so titulierten physischen Spielweise die Kreise des Überathleten der Chicago Bulls über Jahre eingeschränkt und damit einen kleinen Teil ihres legendären Images als „Bad Boys“ befeuert. So sehr Rex Ryan bei derlei Aussagen auch irgendwo frohlocken mag, der Vergleich zu den Raiders und Mahomes heute hinkt. Extrem. Weder ist Mahomes ein titelloser Jungprofi ohne Hilfe wie es „His Airness“ damals war noch kann man einen NFL Quarterback in 2024 in ähnlicher Weise beackern wie man es mit einem Basketballspieler in den späten Achtzigern tun konnte. Von „Bountygate“ mal ganz zu schweigen. Aber das ist vollkommen egal, genauso wie es vollkommen egal ist, was Pierce sonst für Dinge von sich gibt. Denn im Kern trifft er damit einen Nerv bei seinen Spielern, er motiviert, spornt an, befeuert Emotionen.

Markige Worte beflügeln die Raiders

Wie so etwas kurzfristig zum Erfolg führen kann zeigt unter anderem das Christmas-Upset der Raiders gegen die Chiefs 2023, übrigens die letzte Niederlage der späteren Super Bowl Champs. Hinterher soll Andy Reid Pierce eine Nachricht geschickt und sich dafür bedankt haben, dass er den Chiefs ihre letzten Flausen vor dem Titel-Run ausgetrieben hat. Respekt von höchster Stelle, ein weiterer Orden am Revers von Antonio Pierce, der Spielern ebenfalls nicht verborgen bleibt. Alte Geschichten aus seiner aktiven Zeit können daran auch nichts ändern. Pierce versuchte einst die Waffe verschwinden zu lassen, mit der sich Teamkollege Plaxico Burress selbst in einem New Yorker Nachtclub in den Oberschenkel schoss, und überließ ein anderes Mal seine Kampfhunde eine geschlagene Woche in seinem Apartment sich selbst, während er mit den Giants den Super Bowl gewinnen wollte. Ethisch verwerflich, klar, aber in einem NFL-Locker-Room eher sogar eine weitere Marke im Kerbholz.

Wie viele noch dazukommen werden und wie eng das Verhältnis zu seinen Spielern bleibt dürfte sich für Pierce in keiner Pressekonferenz und mitnichten durch die Verpflichtung von Chad Ochocinco als Staffer entscheiden. Es wird sich auf dem Trainingsplatz und an jedem verdammten Sonntag herauskristallisieren, wenn es eben um Siege und Niederlagen geht. Wenn Worte weniger zählen und es viel mehr auf die Xs und Os ankommt. Pierce hat die Chance verdient, sich in diesem Bereich zu beweisen, vielleicht hat er ein goldenes Händchen dafür, ein „Anführer von Männern“ zu sein, wie es in der NFL gerne bezeichnet wird. Ganz allein mit markigen Sprüchen wird es sicherlich nicht funktionieren. Aber hey, wer hätte denn auch gedacht, dass sich der damalige Undrafted Free Agent Antonio Pierce als Spieler zum Super-Bowl-Sieger entwickelt? Oder dass er eines Tages sogar Head Coach der Las Vegas Raiders wird? Manchmal sind die Dinge eben „different“. Wie sehr, das wird sich noch zeigen.

Über den/die Autor/in
Moritz Wollert
Moritz Wollert
Moritz Wollert schreibt für TOUCHDOWN24 u.a. über die NFL. Für das monatliche Print-Magazin schreibt er u.a. die NFL History Artikel

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