Joe Burrow von den Cincinnati Bengals kommt langsam in Fahrt, die NFL aber läuft offensive auf Sparflamme. Credit: Imago Images / USA TODAY Network / Sam Greene

Jahrelang kannte die Offense in der NFL nur den Weg nach vorn, Punkterekorde purzelten am laufenden Band und Defensive Coordinator bekamen wöchentlich neue graue Haare. 2023 erfolgt aber wohl die große Korrektur, denn die Angriffsreihen und Quarterbacks der NFL stecken scheinbar in einer handfesten Krise!

Wer in den letzten zehn Jahren die begrüßenswerte Entscheidung für sich getroffen hat, die NFL mit Leidenschaft und Liebe zu verfolgen, der ist vor allem mit einem Spielstil vertraut. Denn über diesen Zeitraum und auch schon ein paar Jährchen zuvor kurbeln die Offenses der Liga mit voller Wucht am eigenen Punktegenerator. Saison für Saison klopften die Andy Reids, die Sean McVays und die Kyle Shanahans mit neuen aufregenden Konzepten an die Tür der gegnerischen Defenses, die gerne die Pforte wieder zugemacht hätten, der Welle an Innovationen aber eigentlich fast schutzlos ausgeliefert waren. Nun scheint aber der Moment gekommen zu sein, wo die offensiven Genies der NFL vor verschlossener Türe stehen. Und weder Klingel noch Schlüssel finden können.

Die Statistiken der aktuellen NFL-Spielzeit sprechen hier eine deutliche Sprache: 21,8 Punkte pro Partie machen die Teams der NFL an jedem Wochenende, das ist der schlechteste Wert seit 2017 und der zweitschlechteste seit 2009. Pro Partie gelingen den Mannschaften lediglich 2,34 Touchdowns, so wenig wie seit 18 Jahren nicht mehr. Gerade das Passspiel leidet ligaweit, mit den wenigsten Passing Touchdowns seit 15 Jahren, fast 20 Yards weniger pro Partie als noch vor fünf Jahren und der höchsten zugelassenen Sackquote seit 1997. Als Anomalie lässt sich das Ganze nur schwer abtun, denn viele Werte wie zum Beispiel die Gesamtpunktzahl setzen einen Trend fort, der sich schon im letzten Jahr andeutete.

NFL mit schlechtesten Offensivwerten seit Jahren

Zu den Statistiken gesellen sich wöchentlich die Gefühle der Beobachter, dass es die Quarterbacks und damit auch die Angriffsreihen in der NFL langsam aber sicher immer schwerer haben. Eine Entwicklung, die gerade vor den Top-Stars der Liga nicht Halt macht. Josh Allen stolpert mehr oder minder durch die Saison, Joe Burrow ist aufgrund von Verletzungen noch nicht der Alte, selbst Jalen Hurts oder Patrick Mahomes leisten sich mehr irdische Leistungen, als man es von ihnen gewohnt ist. So sehr Spieler wie Rookie C.J. Stroud, der die NFL in Passing Yards per Game anführt und bisher bloß zwei Mal den Ball zum Gegner warf, oder Tua Tagovailoa, der in Miami die explosivste Offense der Liga orchestriert, auch Lichtblicke darstellen, insgesamt sieht es nicht besonders gut aus für offensiven Units. Die große Frage ist nun: Woran liegt das?

Wie so häufig bei ligaweiten Trends gibt es nicht nur eine Antwort, sondern die Erklärung ist vielschichtig. Zum einen kann man feststellen, dass die NFL in den vergangenen Jahren einen Großteil der Spieler verloren hat, die sie zuvor fast zwei Dekaden lang auf der Quarterback-Position geprägt haben. Darunter findet man große Namen wie Tom Brady, Philip Rivers, Drew Brees, Eli Manning oder Ben Roethlisberger. Man könnte die Liste eigentlich auch um Aaron Rodgers erweitern, der bekanntlich nach nur vier Plays bei den New York Jets ausfiel. Insgesamt ist das schon eine ganze Menge Klasse, die da nicht mehr an Sonntagen die Sneaker schnürt. Und während mit Passern wie Burrow, Mahomes oder auch Justin Herbert allerhand Qualität gerade aus den Startblöcken herausgeschossen ist, scheint der „Changing Of The Guard“ zumindest in der Breite doch ein wenig länger zu dauern als zuvor gedacht.

Offensivrevolution hat einen Preis für die NFL

Gewichtiger sind aber wohl personelle wie spieltaktische Gründe, die sich nach Jahren von aufkommenden Spread Offenses in allen Bereichen des amerikanischen Footballs verfestigt haben. Das Offensive Line Play hat auf allen Levels gelitten, seit man fast komplett vom traditionellen Pro-Style-Passing mit etlichen I-Formations abgerückt und hin zu immer mehr Empty und Motion Looks gewechselt ist. Während Pässe immer schneller die Hand des Quarterbacks verlassen sollen und bewegliche Linemen für Screens wie Stretch Plays Hochkonjunktur haben ging der Fokus auf traditionelles Pass Blocking mehr und mehr verloren. Gleiches gilt natürlich noch stärker für das althergebrachte Head-On-Head-Running-Game, welches auch fast komplett in Vergessenheit geraten ist und daher das Vakuum welches die Passing Offense derzeit hinterlässt nicht füllen kann.

Dieser Wandel im Spielstil wirkte sich extrem negativ auf die individuelle wie kollektive Ausbildung von Offensive Linemen aus, überall in der NFL sucht man daher oft vergeblich und voller Verzweiflung starke Protektoren für sein Backfield. Die Anzahl der Mannschaften, die mit einer wackeligen oder zumindest löchrigen O-Line operieren scheint länger denn je. Der Effekt strahlt übrigens auch in andere Mannschaftsteile aus. Tight Ends sind meist nicht mehr so starke Blocker wie früher, Quarterbacks lernen immer seltener vor der NFL, wie man eigentlich eine Defense lesen muss, und Wide Receiver sind oftmals auf kürzere sowie weniger Routen beschränkt. Gerade in der Red Zone wirkt sich das negativ aus, weil hier die Defense ohnehin durch das verkleinerte Feld einen Vorteil genießt. Einen Vorteil, den sie mittlerweile versucht, auf das gesamte Feld anzuwenden.

NFL-Defenses erleben eine Renaissance

Der Anteil an Two-High-Safety-Looks und Soft Zone Coverage ist der höchste seit Jahren, womit viele Teams ihren Gegnern quasi das Big Play über den Kopf der Verteidigung aus dem Playbook nehmen. Gleichzeitig müssen Quarterbacks gegen die Vielzahl von Pass Verteidigern und multiplen Formationen im Hinterfeld geduldiger sein, was nach Jahren des offensiven Diktats eine Neuerung bedeutet. Jeder Drive, der kurze und präzise Pässe verlangt sowie viele Plays braucht, hat eine weitaus größere Chance, durch einen Sack oder einen Penalty im Sand zu verlaufen, als es bei großen „Chunk-Plays“ für 20 oder mehr Yards der Fall ist. Zögern, gestörtes Short-Route-Timing und schwächere O-Lines begünstigen gleichzeitig natürlich die Pass Rusher, die eine kleine Renaissance erleben.

Insgesamt stellt sich hier die schon seit einiger Zeit vermutete Reaktion der Defenses ein, die in sich einen typischen Zyklus innerhalb der NFL beschreibt. Wenn auf der einen Seite des Balles Innovationen vorangetrieben werden, dann braucht die andere Seite etwas, um zu reagieren. Irgendwann aber tut sie es aber und dieser Zeitpunkt scheint nun spätestens gekommen. Zum Glück, möchte man als neutraler Beobachter sagen, denn nur so lässt sich die innere Dynamik im Duell zwischen Offense und Defense, welche dem gesamten Spiel zugrunde liegt, aufrechterhalten.

Über den/die Autor/in
Moritz Wollert
Moritz Wollert
Moritz Wollert schreibt für TOUCHDOWN24 u.a. über die NFL. Für das monatliche Print-Magazin schreibt er u.a. die NFL History Artikel

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