Russell Wilson blickt in Denver in eine ungewisse und anstrengende Zukunft. Credit: Imago Images / USA TODAY Network / Ron Chenoy

Vor nicht allzu langer Zeit galt Russell Wilson von den Denver Broncos noch als einer der besten Quarterbacks der gesamten NFL. Mittlerweile generiert der ehemalige Seahawks Signal Caller aber wesentlich mehr Negativschlagzeilen als Touchdowns. Ein Blick auf ein großes und teures Missverständnis!

Leistung, Empathie, Hilfsbereitschaft, Einsatz, Charakter, Wärme… es gibt unendlich viele Dinge, mit denen ein Mensch andere Menschen für sich gewinnen kann. Mit denen er es schaffen kann, dass sie sich an ihn erinnern, dass sie ihn mögen. Es sind Attribute, mit denen man sich Respekt und Anerkennung verschafft. Einer der wohl wichtigsten und unabdingbarsten Charakterzüge für die Wertschätzung einer Person ist aber wohl Authentizität. Jemand muss "echt" sein, "real" wie es zu Neudeutsch heißt. Dann erst kann man sich ihm öffnen, sich in der Person sicher sein, die vor einem steht. Wie soll man anderseits etwas mögen, von dem man nicht weiß, wer oder was es ist? Schlussfolgend daraus ist das Gegenteil – nennen wir es falsch, künstlich oder "fake" – so ziemlich das Schlimmste in Bezug auf die eigene Identität, was man einem Menschen vorwerfen kann. Schließlich stellt es alles in Frage, für was der Gegenüber steht. So geschehen bei einem gewissen Russell Wilson.

Für Russell Wilson verschwimmen Marke und Persönlichkeit

Nun möchte man anführen, dass ein Quarterback auch kein „Everybody’s Darling“ sein muss, um in der NFL einen großen Fußabdruck zu hinterlassen. Seien wir ehrlich, Tom Brady ist mit seinem historischen Rucksack an fragwürdiger sportlicher Integrität und Anflügen von selbstgerechter Arroganz nicht unbedingt der erste, den NFL-Fans für einen Sympathie-Wettbewerb nominieren würden. Aus der Diskussion um den besten aller Zeiten wird ihn aber niemand raushalten, ganz egal, wie sehr ihn unberechtigte Roughing-the-Passer-Calls zu Terrifics Lebzeiten auch geärgert haben. Jeder wusste immer, woran er ist, ganz besonders seine Teamkollegen. Weil aber Russell Wilson gerade auch sportlich bei den Denver Broncos eine unangenehme Bauchlandung hingelegt hat, bleibt umso mehr Zeit, sich auf seine Eskapaden abseits des Feldes zu konzentrieren. Und eigentlich mag er das so ja auch ganz gern.

Schließlich ist es Russell Wilson selber, der seit vielen Jahren jedem sein Saubermann-Image vorhält, der davon eigentlich gar nichts wissen will. Er ist der personifizierte Beweis dafür, wie unglaublich seltsam sich von sozialen Medien angetriebene postmoderne Geltungssucht entwickeln kann, wenn auf der einen Seite die sportlichen Leistungen nicht mehr stimmen und andererseits die vorgelebte „Brand“ die im Vorhinein beschriebene Authentizität vermissen lässt. Und schlimmer noch das eigentliche Ich verdrängt. Eingefleischte Sportromantiker mögen schnell eine Korrelation zur glamourösen Showbiz-Ehefrau herstellen, was Meriten haben mag, letztendlich aber reine und vielleicht sogar unfaire Spekulation bleibt. Was sich aber festhalten lässt ist dass sich "Mr. Unlimited" mit seiner minutiösen Imagepflege und den damit verbundenen Auswüchsen menschlichen Größenwahns als Sportler vor allem selbst Grenzen gesetzt hat.

Russell Wilson macht sich in Denver wenig Freunde

Vereinzelte Geschichten über ein paar Aussetzer wären ja das eine, aber die Häufigkeit, mit welcher ehemalige Weggefährten Russell Wilsons Persönlichkeit „unter den Bus schmeißen“ ist schlichtweg erdrückend. Und ein altes Sprichwort besagt, dass dort wo es raucht, eigentlich auch ein Feuer sein muss. Längst passen die Erzählungen von ausgedachten College-Schwierigkeiten über egomanisches Verhalten im Locker Room bis hin zu forcierten One-Linern, die wie Fingernägel auf einer Kreidetafel klingen, einfach zu gut zusammen, dass sich das Gesamtbild nicht mehr verschleiern lässt. Jüngste Schlagzeilen wie Wilsons Versuch, in Seattle den Coach und den General Manager zu entmachten, jene Personen, die ihn mit groß gemacht haben, fügen sich da nur zu gut in eben jenes ein. Ebenso seine wie Teflon anmutende Aussage hinterher, dass er sie ja eigentlich doch alle geliebt hat und sie nur gewinnen wollten. Gerade diese vermeintliche komplette Ignoranz eigener Fehlbarkeit, eigener Standpunkte und vor allem eigener Ecken wie Kanten ist auf Dauer schlichtweg schwer zu ertragen. Und nun stellt man sich vor, dass man es jeden Tag erleben muss, so wie die Spieler der Denver Broncos letzte Saison. Sie konnten das dreiminütige Cringe-Video auf Youtube nicht einfach ausstellen, von welchen es etliche über Wilson zu finden gibt.

Geht man dann jeden Sonntag für diesen Mann durchs Feuer? Für denjenigen, der sich nebst seiner gewaltigen persönlichen Entourage ein Büro im gleichen Stockwerk wie die Coaches und das Front Office einrichten lässt? Warum braucht er überhaupt ein Büro? Die Denver Broncos, die dumm genug waren, so etwas zu erlauben, wissen es vielleicht. Die Spieler waren sich da aber ganz bestimmt nicht so sicher. Viel mehr brodelte es ja schon im vergangenen Jahr ständig aus ihnen heraus, dass sie die Nase voll hatten von ihrem Diva-Quarterback. Demjenigen, der ohne auch nur einen Snap gespielt zu haben, einen neuen Mega-Vertrag bekam. Mit dem man zwar am Sonntag spielt, aber nicht für ihn. Und etwas Schlimmeres kann es für einen Quarterback eigentlich kaum geben.

Broncos und Russell Wilson stehen vor Reset

Bei allem, was in der vergangenen Saison in Denver schief gelaufen ist, bleibt dennoch eigentlich nur der Blick in die Zukunft. Für die Broncos, für Russell Wilson und auch für Sean Payton, den neuen Head Coach. Dieser hat schon gesagt, dass es mit ihm keine Sonderbehandlungen geben wird, Wilsons Büro wurde eh schon im Vorjahr ad acta gelegt. Sportlich muss nachjustiert werden, Wilson braucht wieder eine bessere Offensive Line mit einem guten Run Game dahinter, um seine Stärken als Playaction-Passer ausspielen zu können. Dafür muss er selbst sich ebenfalls mehr in das System einfügen. Payton dürfte den ein oder anderen Kniff im Kopf haben, sein wichtigster und unabdingbarster Auftrag aber wird, dem Locker Room einen Neustart zu vermitteln. Und somit auch Russell Wilson.

Wenn er nicht in den Spiegel schaut und realisiert, dass er viele Fehler gemacht hat, dass er wieder ein Teil der Mannschaft werden muss, dann wird es eigentlich unmöglich, dass Ruder in Denver rumzureißen. So sehr ein paar durch den Coach, die Defense oder vielleicht auch Russells wiederentdeckte Fähigkeiten herbeigeführte Siege auch einen Schleier über die Probleme legen mögen, auf lange Sicht kann es nur mit einem kompletten Reset zu echten Erfolgen führen. Zu wahren Erfolgen. Und für die braucht es zumindest ein klein wenig mehr Authentizität als in der Vergangenheit.

Über den/die Autor/in
Moritz Wollert
Moritz Wollert
Moritz Wollert schreibt für TOUCHDOWN24 u.a. über die NFL. Für das monatliche Print-Magazin schreibt er u.a. die NFL History Artikel

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